Die Technologie der Blockchain verspricht Großartiges: Eine ähnliche Revolution der Digitalisierung wie die Verbreitung des TCP/IP-Protokolls in den 1980er-Jahren, eine so tiefgreifende Veränderung wie die industrielle Revolution. Aber wo liegen die Wurzeln der Technologie, welchem Zeitgeist entspringt sie? Eine grobe Skizze zur Vorgeschichte der Gegenwart im Digitalen. Von Martin Schmitt
Die Funktionsweise der Technologie ist schnell erklärt. Blockchain funktioniert wie ein großes, öffentlich geteiltes Kassenbuch der Buchhaltung, in der verschlüsselte Hinweise auf die Transaktionen verzeichnet sind, beispielsweise von Geld. Das Ziel der dezentralen Verwaltung: Transparenz und die Abschaffung von Intermediären. Kurz: Geld ohne Banken, Nationen ohne Regierungen. Das klingt ganz wie in den 1990er-Jahren, als dies alles bereits das Web versprach.
Ausführlicher erklärt die Funktion der Technologie die neuste Folge von Deutschlandradio Kultur Breitband in einer „hörfunktauglichen szenischen Darstellung“: Technologie zwischen Hype und Hohn (zur Sendung). Im weiteren Verlauf der Talk-Sendung war unter anderem zu erfahren, dass die Bundesregierung nun eine Blockchain-Strategie plant. Das Thema ist jetzt also regierungstauglich und hat damit seinen Zenit im Gartner Hype Cycle sicherlich schon überschritten.
Der Ursprung der Technologie in den 1970er-Jahren
Aufmerksam machte mich aber vor allem der Kommentar des Informatikers und Autors Jürgen Geuter, der auf den Ursprung der Technologie in den 1970er-Jahren verwies. Normalerweise verlaufen solche Debatten oft sehr geschichtsvergessen. Digitalgeschichte kommt nicht vor, denn es ist ja die schöne neue Technologie und alles neu. Hier war es mal anders, blieb aber bei einem Teaser für Eingeweihte. Normal hakt da dann Philipp Banse mit bewundernswerter Chuzpe nach und fordert: „Erklären sie das“. So versteht Digitales auch jeder Hörer. Hier nicht und so machte ich mich auf die Recherche nach den erwähnten Ursprüngen der Blockchain.
Die ersten Treffer in der Suche entsprachen der angedeuteten Geschichtsvergessenheit der Digitalisierungsdebatte: Da beginnt die Periodisierung der Blockchain mit der heldenhaften Tat Satoshi Nakamotos im Jahr 2008, als er Bitcoin schuf. Immerhin reichte das Gedächtnis der Gegenwart noch zehn Jahre zurück. Weitere Zäsuren stellten technische Entwicklungen wie die Gründung der Tauschbörse Mt.Gox 2009 und die Gründung von Ethereum als Alternativwährung im Jahr 2015 oder die Eurokrise und politische Entwicklungen in Asien in den 2010er-Jahren dar ( hier ein Beispiel aus dem Handelsblatt). Das war aber nicht, was ich suchte.
Also änderte ich die Suchbegriffe und griff auf die Wikipedia zurück. Deren Einträge in Deutsch wie Englisch gehen immerhin bis in die 1990er-Jahre zurück. Da waren es dann die Informatiker Stuart Haber und W. Scott Stornetta, die 1991 eine Theorie „kryptografisch abgesicherten Verkettung einzelner Blöcke“ entwarfen. Weitere männliche Kryptografen und Unternehmer werden erwähnt, die Währungen wie „Bit Gold“ propagierten oder neue Anwendungsbereiche für die Technik vorschlugen – Pioniere vor ihrer Zeit, wie die Rückschau behauptet. Aber auch darum ging es mir nicht, das waren ja nicht die 1970er-Jahre.
Also ging ich noch einen Schritt zurück und warf einen Blick auf die Informatik-Konzepte hinter der Blockchain: Kryptografie, Merkle-Bäume und Verteilte Datenbankmanagementsysteme. Und da kam ich nun endlich in den 1970er-Jahren an. Ich fand einen Artikel der 1872 gegründeten baskischen Bank BBVA. Ausgerechnet eine Bank, dachte ich mir. Der Artikel trägt einen schmissigen Titel: „From Alan Turing to cyberpunk: the history of blockchain“. Alan Turing kennt ja seit seinem Hollywood-Erfolg jeder. So funktioniert populäre Heldengeschichte der Digitalisierung.
Entwicklungslinien der Blockchain: Kryptografie, Merkle-Bäume und Verteilte Datenbankmanagementsysteme
Der Artikel selbst war aber erstaunlich gut informiert. Nach der allzu bekannten und wenig reflektierten Geschichte aus Bleachley Park geht der unbekannte Autor zu den 1970er-Jahren über, wo sich die Situation veränderte. Ein Gruppe „Visionäre“ trieb die Forschung zur Kryptographie für die Freiheit der Kommunikation im Kalten Krieg voran und machte die sie daher öffentlich zugänglicher. Visionäre, was auch sonst. Die Rede ist hier von Whitfield Diffie und Martin Hellman, zwei US-amerikanischen Kryptografen. Sie ersonnen 1976 einen Algorithmus, mit dem sich Verschlüsselung in einen öffentlichen und einen privaten Schlüssel aufteilen und somit Autonomie gewinnen ließ. Mit dem öffentlichen Schlüssel wird verschlüsselt, mit dem privaten entschlüsselt, eine der Grundlagen der Blockchain.
Etwa zeitgleich warf der Informatiker Ralph Merkle seine Idee der Merkle-Bäume in die Runde, auch Hash-Bäume genannt. Diese hatten nichts mit dem Drogenkonsum der Gegenkultur Nordkaliforniens zu tun, in deren Umfeld Merkle sozialisiert wurde, sondern mit der Datenintegrität. Mit einem Hash-Baum ließ sich sicherstellen, das Daten nicht mehr im Nachhinein verändert werden – eine weitere grundlegende Eigenschaft der Blockchain.
Von hier aus sprang der Artikel der BBVA in die 1990er-Jahre. Die Geschichte der Blockchain ist damit eine der Kryptografie. Dementsprechend tauchen als nächstes die Cypherpunks der 1990er-Jahre auf, die Verschlüsselung als die Lösung allen Übels betrachten. Putzig, mit was sich Banken heute so alles schmücken. Aber Banker sind selten Punks und auch zu Hackern haben sie in der Regel ein eher ambivalentes Verhältnis. Daran wird schnell klar, dass hier wohl einige Erzählstränge auf dem Weg verloren gegangen sein müssen. Zum Beispiel die der libertären Bewegung. Oder die des verteilten Datenbankmanagementsystems. Klingt ja auch längst nicht so cool, wie auch Jürgen Geuter in der Radio-Talkrunde im Deutschlandradio Kultur festhält. Ist aber deutlich näher dran an dem, was Banken so mit IT gemacht haben.
Zur Geschichte der Datenbanktechnologien in den 1970er- und 1980er-Jahren hat der Historiker David Gugerli ein ganz hervorragendes Buch und auch einen Aufsatz geschrieben: Die Welt als Datenbank. Allerdings geht es darin weniger um verteilte Datenbanken, als um relationale Datenbank. Auch wichtig für die Blockchain, aber nicht das übergeordnete Strukturprinzip. Und auch das nicht ganz so hervorragende Buch der Medienwissenschaftlerin Mercedes Bunz „Vom Speicher zum Verteiler“ erlebt hier kein Revival, denn in der Blockchain werden keine Daten gespeichert – eigentlich ja ironisch, dass dies die ganze Welt denkt. Das Thema der verteilten Datenbanken war aber scheinbar noch nicht hip genug, denn weder die Wikipedia, noch baskische Banken interessierten sich bisher für ihre Geschichte, geschweige denn Historiker. Der Reiter „Geschichte“ fehlt im Wikipedia-Eintrag zum Thema verteilte Datenbankenschlicht.
Nur ein paar Informatiker an der TU Berlin interessierte das mal in den 1990er-Jahren. Damals hießen die Dinger noch föderierte Datenbanken, was einen etwas an die föderale Struktur der Bundesrepublik und deren Funktionsprinzipien erinnert – vermutlich auch gar nicht so weit weg von den politischen Ideen hinter der Technologie. Sie stellen in bestem Informatiker-Englisch dar, wie diese Datenbankform sich aus den Informationssystemen der 1970er-Jahre entwickelte, die seinerzeit der neuste Schrei war. Ja, auch die DDR-Banken schrien seinerzeit mit, als es darum ging, die Potentiale der Informationssysteme für die Planoptimierung zu nutzen. Entscheidend sind die Kriterien der Datenbank, welche die Autoren der TU-Berlin ausmachen: Ihre Autonomie, Heterogenität und dass sie verteilt agierten. Alles drei finden wir heute auch in den Blockchains als Referenzsysteme auf solche Datenbanken wieder.
Desiderate der Geschichte der Blockchain
So weit, so technisch. Eine eingehende historische Untersuchung der Blockchain müsste sich noch stärker mit den sozio-politischen Entwicklungen auseinandersetzen, die in den 1970er-Jahren sich vollzogen: Der wirtschaftliche Strukturbruch. Das Postulat von „small is beautiful“ in verteilten Kleinsystemen gegenüber fortschrittsstrotzenden Großprojekten. Die politische Diversifizierung, die von der libertären Bewegung in den USA und Großbritannien bis zu den sozialen Bewegungen der Bundesrepublik reichte, inklusive dem Misstrauen gegenüber Institutionen und der Betonung lokaler Gemeinschaften. Die Individualisierung. Und sowieso klafft eine große Lücke in all den wunderbaren Geschichten der Blockchain: Warum haben wir es hier wieder mit einer amerikanischen Meistererzählung zu tun?
Hier wartet noch viel lohnenswerte Arbeit. Die Geschichte der Blockchain zu verstehen hilft dabei, sie in längere Linien einordnen zu können. Sie offenbart, wessen Geistes Kind die Technologie ist. Sie ermöglicht, die gegenwärtigen Debatten informiert zu führen und nicht dem nächsten Hype nachzulaufen. Blockchains kamen nicht aus dem Nichts.
Text: Martin Schmitt
Bild: Free-Photos, CC0