Wohin entwickelt sich die history of computing? Und welche Rolle spielt dabei die Anfangszeit des Digitalen Zeitalters? Diese Frage stand im Zentrum eines kleinen Workshops in Siegen am vergangenen Wochenende (10.-12. Juni 2016). Organisiert von Thomas Haigh kamen hier Historiker/innen, Medienwissenschaftler/innen und Informatiker/innen aus ganz Europa zusammen, um über „Beyond ENIAC. Early Digital Platforms and Practices“ zu diskutieren.
Der Medienwissenschaft der Universität Siegen gelang es zuletzt, einen umfangreichen Sonderforschungsbereich „
Medien der Kooperation“ bei der DFG einzuwerben. Im Rahmen dessen konnte
Thomas Haigh, Wirtschaftshistoriker und einer der prominentesten Figuren der history of computing, als Comenius-Gastprofessor gewonnen werden, der diesen Workshop organisierte. In seinem Auftaktstatement stellte er die Frage, wo genau die Digitalgeschichte („history of computing“) zu verorten sei und welche Zukunft für sie anzustreben sei. Digitalgeschichte sei dabei nicht zerrissen zwischen Medienwissenschaft, Technikgeschichte und Informatik, sondern vielmehr ein Bindeglied zwischen diesen Disziplinen. Mit ihr werde es möglich, Wissenschaftler der einzelnen Fachrichtungen miteinander sprechen zu lassen – wofür der Workshop der beste Beweis war. Von den frühen Computerprojekten wie ENIAC und Colossus über die Identitätsbildung der Programmierer in Europa oder der Sowjetunion bis hin zum Einfluss der minimalistischen Logik auf die Architektur früher Maschinen reichte das Themenspektrum, das dem
Programm des Workshops zu entnehmen ist. An dieser Stelle sollen nur drei Vorträge heraus gegriffen werden, die aus der Perspektive des Computerisierungs-Projektes mit Schwerpunkt auf der gesellschaftlichen Nutzung und den Veränderung der Computertechnologie als besonders interessant eingeschätzt werden.
Mark Priestly zeigt den „Master Progammer“ im ENIAC auf dem Workshop Early Digital in Siegen. (Martin Schmitt)
Selbst wenn der Workshop relativ offen zum Thema #earlydigital ausgeschrieben wurde, so waren doch deutliche Interessenschwerpunkte der anwesenden Wissenschaftler erkennbar. Einer dieser Schwerpunkte war die Frage nach den frühen Arbeitern und Nutzern, welche die Computer bauten und einsetzten. Wie wurden sie ausgebildet, was für ein Selbstverständnis bildeten sie aus? Thomas Haigh und Mark Priestley machten dazu einen Aufschlag, indem sie angelehnt an ihr neustes Buch zur Geschichte des ENIAC nach dessen „Lost Labors“ fragten. Der ENIAC, entwickelt und gebaut von 1942 – 1946 in den USA, war einer der ersten speicher-programmierten Rechner und entscheidend für die weitere Computerentwicklung. Haigh und Priestly zeigten gestützt auf Archivmaterial auf, wie nicht nur die berühmten „sechs Frauen“ des ENIAC diesen programmierten, sondern auch eine beachtliche Zahl derjenigen Ingenieure Frauen waren, die ihn zusammensetzten und aufbauten. Oder anders gesagt: Es reiche nicht, die bisherige Computergeschichte von den großen Männern und ihren Maschinen um einige wenige große Frauen zu ergänzen. Viel entscheidender ist es aufzuzeigen, wie Frauen von Beginn an gleichermaßen in Aufbau und Nutzung der Computer integriert waren und somit maßgeblich zu Computerisierung der Gesellschaft beitrugen. So stellt sich die Frage, wie ein Computer und seine Entstehung über die Zeit erinnert wird – und wann. Beispielsweise erinnerten die Zeitgenossen den ENIAC in den 1960er-Jahren hauptsächlich als groß und klobig. Gleichzeitig feierten spätere Historiker ihn hauptsächlich als Meilenstein auf dem Weg zum modernen Computer, vernachlässigten dabei aber, wie der Computer zum Einsatz kam. Er wurde als Konzept erinnert, nicht als arbeitende Maschine. Die Software des ENIAC wurde vergessen, obwohl der Computer selbst berühmt wurde. Ganz entscheidend zu seiner Berühmtheit trug eine organisierte Öffentlichkeitsarbeit bei. So wurden Journalisten bereits zwei Wochen vor der eigentlichen, feierlichen Inbetriebnahme in die Computerräume eingeladen. Nur so schaffte es der ENIAC 1946 auf das Titelcover der New York Times. Die Bedeutung öffentlicher Ereignisse und Publizität zeigte sich auch in anderen Computerprojekten. Der britische Colossus Computer war lange Zeit der Geheimhaltung unterlegen und daher wenig erinnert. Aber auch in Deutschland lässt sich das Phänomen betrachten, wie historische Faktizität durch Großveranstaltungen zu schaffen versucht wird, wenn in Berlin kürzlich der Zuse Z3 völlig unhinterfragt zum ersten Computer ausgerufen wurde.
Eine vergleichbare Fragestellung trieb dabei
Ksenia Tatarchenko um, die an der Universität Genf Sowjetische Geschichte lehrt. Wie konnte sich in einem Berufsfeld der Programmier/innen, das in der Sowjetunion von Frauen geprägt war, ein dominantes männliches Rollenbild durchsetzen? An Hand der Programmierergruppe um den Informatiker
Andrej Petrowitsch Erschow und seinen Kontakten mit westlichen Wissenschaftler zeigte sie die offene Welt des Kalten Krieges in Zeiten
geschlossener Welten. Gerade in den Westkontakten, so Tatarchenko, reproduzierte sich das männliche dominierte Bild des Programmierers. Sie verstärkten das durch Erschow als Gruppenleiter geprägte männliche Rollenverständis in Sowjetunion ab dem Moment, ab dem der Beruf des Programmierers auch für die männliche Arbeiterschaft zu einer lukrativen Position wurde und Vorbilder suchten. Abschließend ist festzuhalten, dass an den Ausführungen Tatarchenkos ein sozialistischer Weg in das Informationszeitalter sichtbar wird, der keine Alternativgeschichte darstellt, sondern eine stark mit westlichen Entwicklungen verzweigt war. Dies ist eine Erkenntnis, die sich auch in den Projekten unserer Projektgruppe widerspiegeln.
Die Ergebnisse der Programmierer/innen war Software. Die ganz verschiedenen Arten der Software, die dabei geschaffen wurden, durchzogen auch den Workshop in Siegen. So begann der Samstagmorgen mit einer Roundtable-Diskussion über die Ursprünge der Betriebssysteme. Maarten Bullynck von der Universität Paris stellte einige einleitende Fragen: Was ist überhaupt ein Betriebssystem? Es gäbe zahlreiche Kandidaten, die in diesen Kreis gezählt werden könnten wie LINUS, DOS oder OS/360, aber was qualifiziert diese Systeme eigentlich als Betriebssysteme? Welche Teile davon sind noch Betriebssystem, welche bereits Applikation? So stellt er fest, dass der Begriff unschärfer ist, als es die meisten Wissenschaftler annehmen. Vor allem in Bezug auf die Anfangsjahre des Digitalen Zeitalters. Weiterhin fragt er, was denn fehle in der Geschichte der Betriebssysteme, wie sie bisher geschrieben wurde. Hier fielen ihm besonders der Mangel an Komplexität und das Fehlen des Nutzers auf. Zwar habe jeder Entwickler immer einen antizipierten Nutzer im Kopf. Gerade die Nutzung in einer Ko-Konstruktion der Technologie sei aber entscheidend für die Entstehung der Betriebssysteme in ihrer heutigen Form gewesen. Jenseits der Forschungen zu Xerox Park fehlte es hier noch an historischen Analysen. Der Niederländer Historiker Gerard Alberts hob hervor, dass ein Betriebssystem hauptsächlich das automatisiere, was zuvor Menschen getan hätten, genauer gesagt die Operatoren. Das Betriebssystem übernehme die Hausarbeiten der Systeme und entlaste den Nutzer von wiederkehrenden, grundlegenden Routineaufgaben. Angelehnt an Maarten Bullynck wies er auf die niederländische Verwendung des Wortes „Komplex“ hin, die für das Betriebssystem benutzt wurde. Betriebssysteme seien ein „Meta-“ oder „Super-„Programme, aber er ziehen den Begriff Komplex vor, da er auf die unterschiedlichen Elemente hinweist, die sich im Betriebssystem vereinigen. Auch Pierre Monier-Kuhn, Digitalhistoriker Frankreichs seit über 20 Jahren, wies auf die Unterschiedlichen Begriffe hin, die in den 1960er-Jahren in Frankreich mit dem heute ubiquitären „Operating System“ konkurrierten: monitor, supervisor, software de base. Auch in Deutschland, , so ist hier anzufügen, wurde lange der Begriff „Basissoftware“ verwendet, beispielsweise in den Sparkassen der Bundesrepublik und der DDR in ihrem Einsatz von Software.
Im Zentrum der öffentlichen Keynote von
Martin Campbell-Kelly, wohl einem der bekanntesten Digitalhistoriker, stand ebenfalls das Thema Software. Anhand früher Programme des EDSAC, einem der drei ersten britischen Computerprojekte, führte er vor, wie auch Historiker Code als Quelle begreifen können. In akribischer Kleinarbeit analysierte er die Ursprünge der ersten Programme und wie diese den Programmierstil späterer Generationen bestimmten. So lassen sich die Notation Maurice Wilkes, eines frühen Computeringenieurs, später nicht nur in Handbüchern der IBM wiederfinden, sondern auch in den Publikationen
John von Neumanns. Auf einem Emulator ließ er den Code Wilkes ausführen und erzielte nach mehreren Durchläufen die ursprünglichen Ergebnisse. Dadurch erhielt er Einblick in die Denkwelten und in die Probleme, vor denen Programmier/innen standen. Eine Quellenkritik des Code wird mit den Methoden Campbell-Kellys erkennbar.
Spannender Weise kam es im Feld des Programmierens, ähnlich wie in den Sparkassen und Rentenversicherungen in Hinblick auf die Massen-Transaktionen, bereits sehr früh zu einer Formalisierung in Form von Formularen. Aber auch hier zeigte sich, worauf Thomas Haigh zuvor hingewiesen hatte: Die EDSAC als programmierte Maschine veränderte sich in der Zeit von ihrer Entwicklung bis hin zu ihrem produktiven Betrieb im Dienste der Wissenschaft immer wieder. Sie ist nicht als eine konstante Maschine zu begreifen, sondern als ein sich verändernder Prozess – das gilt ebenso für ihre Programme. Die EDSAC war nachfolgend die Vorlage für den sehr erfolgreichen Business-Computer LEO I der Lyons Company. Dort waren allerdings andere Eigenschaften angesichts der Massendatenverarbeitung gefragt: Repetitive Funktionen, sehr viel mehr Daten, viel weniger Code-Zeilen und es war mehr Speicher notwendig. Das fiel Wilkes auf, als er Anfang der 1950er-Jahre den LEO begutachtete.
Zusammenfassen lässt sich der Workshop als eine gelungene Kombination unterschiedlicher Interesse unter dem Stichwort „Early Digital“ als Frühzeit der Computerisierung. In den nächsten Jahren sollen weitere Veranstaltungen dazu in Siegen folgen. Durch die stärkere Vernetzung und durch überzeugende Monografien kann es gelingen, die Digitalgeschichte in einem breiteren Umfeld zu etablieren und zu institutionalisieren.
Text: Martin Schmitt
Titelbild: ENIAC (Electronic Numerical Integrator And Computer) in Philadelphia, Pennsylvania. Glen Beck (background) and Betty Snyder (foreground) program the ENIAC in building 328 at the Ballistic Research Laboratory (BRL). https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Eniac.jpg, Rechte: public domain
Bild: Martin Schmitt